Katja Günther hat die Autorinnen des Podcasts „Mordlust“ des funk-Magazins zur Differenzierung von Mord und Totschlag beraten. Hier können Sie die Podcast-Folge zu Mord und Totschlag anhören (ab 47:16). Hier das Interview in voller Länge:
Inhalte
- 1 Sollte eine Differenzierung zwischen „Mord“ und „Totschlag“ bestehen bleiben?
- 2 Sollte eine lebenslange Haftstrafe weiterhin bei Mord zwingend sein?
- 3 Was halten Sie von dem Mordmerkmal der „Heimtücke“?
- 4 Sollten weitere „niedrige Beweggründe“ aufgenommen werden, wenn ja welche?
- 5 Sollte es eine Überarbeitung der „Tätertypen“ geben?
- 6 Braucht der Paragraf 211 des Strafgesetzbuchs eine Reform und wenn ja, wie sollte diese aussehen?
- 7 Haben Sie selbst schon mal einen Fall vertreten, der bei Ihnen einen Wunsch nach einer Änderung des § 211 StGB hervorgerufen hat?
- 8 Gibt es Länder, bei denen Sie die Gesetzgebung für gelungener halten?
- 9 Könnten Sie sich vorstellen, dass der Paragraf auch in Hinblick auf illegale Autorennen erweitert werden würde? Wie könnte so etwas aussehen?
Sollte eine Differenzierung zwischen „Mord“ und „Totschlag“ bestehen bleiben?
Die Differenzierung zwischen „Mord“ und „Totschlag“ berührt zwei grundsätzliche Fragen unseres Rechtssystems:
a)Da ist zum einen das menschliche Leben als höchstes Schutzgut. Das Grundgesetz (GG) stellt die Würde des Menschen und das Recht jedes Einzelnen auf Leben in Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unter besonderen verfassungsrechtlichen Schutz. Die Stellung dieser Grundrechte am Beginn unserer Verfassung zeigt die Bedeutung, die der Verfassungsgeber der Menschenwürde und dem menschlichen Leben beigemessen hat. Aus dieser Bedeutung folgt nicht nur die Pflicht des Staates, das menschliche Leben und die Menschenwürde aktiv zu achten und zu schützen, sondern auch Verletzungen wirkungsvoll zu sanktionieren. Das Strafrecht leistet hier nicht nur einen allgemeinen Beitrag zum Schutz bestimmter Rechtsgüter, sondern sagt durch das angedrohte Strafmaß auch etwas über den Wert, den der Staat und unsere Gesellschaft diesen Schutzgütern beimessen.
b)Auf der anderen Seite steht das Schuldprinzip, das ebenfalls aus der Verfassung folgt und in § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB kodifiziert ist. Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. Das Schuldprinzip bedeutet Zweierlei: Zum einen kann nur derjenige bestraft werden, dem seine Tat vorgeworfen kann, den also Schuld trifft. Zum anderen müssen die Schuld des Täters und die gegen ihn verhängte Strafe in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.
Daraus folgt, dass nicht jede Tötung eines Menschen in derselben Weise sanktioniert werden kann und darf. Menschen können aus den vielfältigsten Gründen durch einen Anderen zu Tode kommen. Ein Augenblickversagen im Straßenverkehr kann einen verheerenden Unfall mit vielen Toten und Schwerverletzten nach sich ziehen. Trotzdem ist die Schuld des Täters, also der Grad der Vorwerfbarkeit seines Handelns oder Unterlassens, gering. Umgekehrt kann die Tötung eines einzigen Menschen aufgrund der Motivation des Täters und/oder der Art und Weise der Tatbegehung so viel Schuld in sich tragen, dass dafür nur die höchste gesetzlich zulässige Sanktion, die lebenslange Freiheitsstrafe, angemessen ist.
Diese Pflicht zur Differenzierung nach der Schuld des Täters zwingt dazu, zwischen Mord, Totschlag und sonstigen Formen der Tötung eines Menschen zu unterscheiden. Verkürzt gesagt unterscheiden sich Mord und Totschlag in den Motiven des Täters und in der Begehungsweise der Tat. Mord ist nicht „einfach“ die Tötung eines Menschen, sondern die Tötung eines Menschen aus Gründen, die von der Rechtsordnung unter keinen Umständen gebilligt werden können, und/oder auf eine Art und Weise, die eigenständiges Unrecht in sich trägt, z.B. weil das Opfer vor seinem Tod besondere Qualen erdulden musste.
Sollte eine lebenslange Haftstrafe weiterhin bei Mord zwingend sein?
Ja, weil nur so der verfassungsrechtlich geforderte Schutz des menschlichen Lebens gewährleistet werden kann. Weil das menschliche Leben das höchste Schutzgut ist, das unsere Rechtsordnung kennt, muss der Staat auch mit den Mitteln des Strafrechts dafür Sorge tragen, dass kein menschliches Leben aus nichtigen oder verwerflichen Motiven, zur Ermöglichung oder Verdeckung einer anderen Straftat oder auf eine besonders abstoßende, hinterhältige oder gemeingefährliche Weise ausgelöscht werden darf.
Was halten Sie von dem Mordmerkmal der „Heimtücke“?
Grundsätzlich rechtfertigt die heimtückische Tötung eines Menschen die Annahme von gesteigertem Unrecht und gesteigerter Schuld des Täters. Heimtücke bedeutet, dass das Opfer arg- und wehrlos ist. Die Wehrlosigkeit ist oftmals die Folge der Arglosigkeit. Wer offen mit einer Schusswaffe bedroht oder mit einem Messer angegriffen wird, realisiert die Gefahr, in der er sich befindet, und kann zumindest noch versuchen, sich zu wehren, zu retten oder zumindest die Folgen des Angriffs abzumildern. Wer aber gar nicht ahnen kann, dass sein Leben in akuter Gefahr ist, hat nicht einmal den Hauch einer Chance, sich zu wehren oder die drohenden Folgen abzumildern.
Das Mordmerkmal der Heimtücke wirft aber dann Probleme auf, wenn der Täter dem Opfer deutlich unterlegen ist und glaubt, diese Überlegenheit nur durch Heimtücke kompensieren zu können. Denken Sie an den klassischen Fall der Tötung eines tyrannischen Ehemanns. Nun kann man sagen, dass „Scheidung auf italienisch“ keine Lösung ist und der Staat insbesondere Frauen sowohl rechtlich (z.B. mit Hilfe des Gewaltschutzgesetzes) als auch praktisch hilft. Ganz so einfach ist es aber nicht. Es gibt Frauen (im Einzelfall auch Männer), die aufgrund (zumeist psychischer) Abhängigkeit selbst dann nicht von einem (anderen) Mann loskommen, wenn er sie über lange Zeit demütigt, schlägt und sexuell missbraucht. Oftmals ist es gerade ein langes Martyrium, das dem Opfer den Blick auf jede Hilfe von außen verstellt. Es gibt aber auch Fälle, in denen das Recht und staatliche Hilfsangebote versagen, z.B. weil Männer ihren Frauen trotz Gewaltschutzanordnung nachstellen, ihnen in der Nähe von Frauenhäusern auflauern usw. Solche Situationen können dazu führen, dass ein Täter zur Heimtücke greift, weil er zu einem Angriff mit offenem Visier gar nicht imstande ist. Trotzdem können in solchen Fällen der Unrechtsgehalt der Tat und die Schuld des Täters im Vergleich zum Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle so erheblich abweichen, dass nach den allgemeinen Kriterien des Strafrechts ein \“minder schwerer Fall\“ vorliegt, den es für Mord – noch – nicht gibt.
Dabei hatte ausgerechnet der nationalsozialistische Gesetzgeber bei der Änderung des Mordparagraphen im Jahre 1941 durchaus Situationen gesehen, in denen die seit Einführung des Reichsstrafgesetzbuchs zum 1. Januar 1872 für Mord zwingend vorgeschriebene Todesstrafe „nicht angemessen“ ist, so dass an deren Stelle lebenslanges Zuchthaus trat (§ 211 Abs. 3 a.F.). Der Bundesgesetzgeber hat diese „Milderung“ 1953 im Zusammenhang mit Eliminierung der Todesstrafe aus dem Strafgesetzbuch gestrichen, weil nach der Abschaffung der Todesstrafe durch Inkrafttreten des Grundgesetzes am 24. Mai 1949 als höchste mögliche Sanktion ohnehin nur eine lebenslange Freiheitsstrafe (damals noch „Zuchthaus“) in Betracht kam. Teile der rechtwissenschaftlichen Literatur zweifeln jedoch daran, dass der Gesetzgeber in die § 211 Abs. 3 StGB a.F vorgesehene Möglichkeit des Abweichens von der Höchststrafe wirklich bewusst abschaffen wollte, und halten § 211 StGB in seiner heutigen Fassung deswegen für planwidrig lückenhaft, was Räume für eine lückenschließende Rechtsfortbildung eröffnet.
Sollten weitere „niedrige Beweggründe“ aufgenommen werden, wenn ja welche?
In den letzten Jahren ist der ungute Trend zu einer ständigen Änderung des Strafrechts festzustellen. Dabei ist auch im Recht weniger manchmal mehr. Zwar muss der Gesetzgeber auf Veränderungen reagieren und, wenn das bestehende Recht nicht mehr ausreicht, nachbessern. Er sollte aber stets fragen, ob eine Änderung wirklich erforderlich ist und ob sie einen echten Mehrwert für die zu schützenden Rechtsgüter und den Rechtsanwender hat. Das gilt auch für die „niedrigen Beweggründe“ in § 211 Abs. 2 StGB. Dieses Tatbestandselement ist verfassungsrechtlich nicht unproblematisch, weil es so offen formuliert und auslegungsbedürftig ist, dass es mit dem Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG („Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde“) in Zielkonflikt gerät. Andererseits herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass die subjektiven Mordmerkmale der „niedrigen Beweggründe“ in Relation zu den inhaltlich ausgeformten Mordqualifikationen (Mordlust, Befriedigung des Geschlechtstriebs, Habgier) einen kriminalpolitisch unverzichtbaren Auffangtatbestand darstellen. Wichtiger als die Aufnahme eines Katalogs von niedrigen Beweggründen in das Gesetz ist es, dem Tatbestandselement der niedrigen Motive eine gesetzliche Kontur zu geben, die insbesondere dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot hinreichende Rechnung trägt. Das könnte durch eine hoch abstrakte und trotzdem praktikable Umschreibung dessen geschehen, wann Beweggründe des Täters „niedrig“ sind, ergänzt mit typischen Beispielen aus unterschiedlichen Fallgruppen. Wissenschaft und Praxis haben hier in den letzten Jahrzehnten gute und umfangreiche Vorarbeiten geleistet. Diese gilt es aufzugreifen und sinnvoll zu abstrahieren. Einigkeit besteht darüber, dass mordtypische niedrige Beweggründe auf tiefster Stufe stehen müssen. Anerkannt ist auch, dass jeder dem deutschen Strafrecht Unterworfene ungeachtet der eigenen sozio-kulturellen Herkunft unsere für eine demokratische, freie, offene, pluralistische und rechtsstaatliche Gesellschaft konstitutiven Wertentscheidungen (Gleichheit von Mann und Frau; gesellschaftliche, ethnische, politische, religiöse und sexuelle Vielfalt; Gewaltmonopol des Staates usw.) hinzunehmen hat und deren Negierung die unterste Stufe von Mordmotiven darstellt. Gerade Letzteres sollte in einer Legaldefinition der „niedrigen Beweggründe“ deutlich zum Ausdruck kommen.
Sollte es eine Überarbeitung der „Tätertypen“ geben?
§ 211 StGB ist im Strafgesetzbuch insofern ein Fremdkörper, weil er zunächst die Strafe für den „Mörder“ bestimmt und anschließend definiert, wer „Mörder“ ist. Hier steht also primär der Täter – verstanden als verallgemeinerungsfähiger Tätertypus – im Zentrum der strafrechtlichen Wertung und nicht die Tat. Das entsprach dem nationalsozialistischen Strafrechtsverständnis und der im Dritten Reich propagierte Lehre vom „Tätertyp“, die heute aus gutem Grund überholt ist. Kein Mensch „ist“ Täter, sondern wird durch seine Tat zum Täter. Nach der Systematik unseres Strafrechts werden die Voraussetzungen einer strafbaren Handlung (der Tatbestand) durch konkrete Umstände und Voraussetzungen (die Tatbestandsmerkmale) umschrieben: Wer etwas Bestimmtes tut (oder im Einzelfall unterlässt), wird auf eine bestimmte Weise bestraft. An diese Systematik sollte auch § 211 StGB angepasst und der „Tätertypus“ des „Mörders“ (sowie der des „Totschlägers“ in §§ 212 und 213 StGB) aus dem Gesetz entfernt werden.
Braucht der Paragraf 211 des Strafgesetzbuchs eine Reform und wenn ja, wie sollte diese aussehen?
Neben der skizzierten Legaldefinition der „niedrigen Beweggründe“ und der gerade beschriebenen Akzentuierung des Tatbestands weg vom Tätertypus und hin zur Tat sollte nach dem Vorbild von § 213 StGB auch für Mord ein minder schwerer Fall eingeführt werden. Zwar bemüht sich die Rechtsprechung (insbesondere des BGH) seit langem, im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung in Grenzfällen durch Rückgriffe auf gesetzliche Milderungsgründe sowie durch eine einschränkende Auslegung und eine Subjektivierung von einzelnen objektiven Mordmerkmalen eine schuldangemessene Bestrafung zu erreichen. Damit greift der BGH letztlich die Differenzierung auf, die seinerzeit § 211 Abs. 3 a.F. StGB zu Grunde lag und ein Absehen von der obligatorischen Todesstrafe ermöglichte. Daran wird aber kritisiert, dass diese Rechtsfortbildung contra legem erfolge und es – schon aus Gründen der Gewaltenteilung – Sache des Gesetzgebers sei, Abweichungen von der absoluten Strafdrohung des § 211 Abs. 1 StGB, die auch das Bundesverfassungsgericht für Grenzfälle fordert, zu regeln.
Haben Sie selbst schon mal einen Fall vertreten, der bei Ihnen einen Wunsch nach einer Änderung des § 211 StGB hervorgerufen hat?
Nein – was auch daran liegt, dass die Mordrate so erfreulich gering ist (für 2017 weist die Kriminalstatistik „nur“ 405 vollendete Morde aus), dass wir Strafverteidiger mit dem sprichwörtlichen „Mord und Totschlag“ viel seltener zu tun haben, als es Vorabendkrimis und manche Politikeräußerungen und Medienberichte vermuten lassen.
Gibt es Länder, bei denen Sie die Gesetzgebung für gelungener halten?
Beim Blick in andere Rechtssysteme ist immer Vorsicht geboten. Nicht alles, was auf den ersten Blick besser oder gelungener erscheint, ist es bei näherer Betrachtung auch. Hier sind sorgfältige Rechts- und Systemvergleiche vonnöten, die ein Praktiker in der Regel gar nicht leisten kann und deswegen in Anerkennung der eigenen Grenzen getrost den vergleichenden Wissenschaften überlassen sollte.
Könnten Sie sich vorstellen, dass der Paragraf auch in Hinblick auf illegale Autorennen erweitert werden würde? Wie könnte so etwas aussehen?
Eine Erweiterung von § 211 StGB auf tödlich endende illegale Autorennen ist nicht erforderlich, weil der Mordtatbestand es schon heute erlaubt, den Teilnehmer eines solchen Rennens, der dadurch den Tod eines Menschen verursacht hat, wegen Mordes zu verurteilen. Das Landgericht Berlin war diesen Weg im aufsehenerregenden Fall der „Kudamm-Raser“ gegangen. Der BGH (Urteil vom 1. März 2018 − 4 StR 399/17) hatte diese Verurteilung zwar aufgehoben – allerdings nur wegen Fehlern bei der Feststellung des Tötungsvorsatzes. Zwar reicht auch bei Mord ein sogenannter bedingter Vorsatz. Darunter versteht man, dass der Täter den Taterfolg als Folge seines Handelns ernsthaft für möglich hält und ihn, mag er ihm auch unerwünscht sein, zugleich billigend in Kauf nimmt. Diesen Vorsatz hatte das LG Berlin im ersten „Kudamm-Raser“-Urteil nicht rechtsfehlerfrei dargelegt. Dass die betroffenen Raser nicht wegen Mordes verurteilt werden könnten, hat der BGH aber gerade nicht entschieden. Auch der neu geschaffene § 315d StGB, dessen Abs. 5 für tödlich endende Kraftfahrzeugrennen einen Strafrahmen von einem bis zu zehn Jahren Freiheitsstrafe vorsieht, steht einer Verurteilung wegen Mordes im Einzelfall nicht entgegen. Bei einem illegalen Autorennen, bei dem ein Mensch zu Tode kommt, kann nämlich Tateinheit zwischen § 315d Abs. 5 StGB und § 211 StGB oder § 212 StGB bestehen. Tateinheit bedeutet, dass dieselbe Handlung mehrere Strafgesetze oder dasselbe Strafgesetz mehrmals verletzt (§ 52 Abs. 1 StGB), und hat zur Folge, dass die Strafe nach der Strafnorm zu bestimmen ist, die die schwerste Strafe androht (§ 52 Abs. 2 Satz 1 StGB).